Eine Antwort auf die Frage, wie wir zusammen leben werden, verspricht die diesjährige 17. Architekturbiennale von Venedig in ihrem Titel. Ob sie diese Antwort geben kann, hat die Wüst und Wüst Magazin-Redaktion vor Ort überprüft und ist mit gemischten Gefühlen wieder nachhause gereist.
Neben ein paar wirklich grossartigen Installationen bleibt uns allerdings vor allem die Erinnerung an ein Venedig noch ohne Touristenströme, an ein paar sommerliche Tage in der beeindruckenden Altstadt und an das Gefühl einer wiedererwachenden Normalität.
Wofür die Themenfrage steht?
Der Kurtor der 17. Internationalen Architekturausstellung und Architekt Hashim Sarkis entschlüsselt die Themenfrage, wie wir zusammen leben werden, so:
- Wie: Spricht von praktischen Ansätzen und konkreten Lösungen und unterstreicht das Primat der Problemlösung im architektonischen Denken.
- Werden: Signalisiert den Blick in die Zukunft, aber auch das Streben nach Vision und Entschlossenheit und schöpft aus der Kraft des architektonischen Imaginären.
- Wir: Steht in der ersten Person Plural und schliesst damit andere Völker, andere Spezies ein und appelliert an ein empathischeres Verständnis von Architektur.
- Zusammen: Impliziert Kollektive, Allmende, universelle Werte und hebt Architektur als eine kollektive Form und eine Form des kollektiven Ausdrucks hervor.
- Leben: Bedeutet nicht einfach zu existieren, sondern zu gedeihen, aufzublühen, zu bewohnen und Leben auszudrücken, was den der Architektur innewohnenden Optimismus anzapft.
- Das Fragezeichen: Weist auf eine offene, nicht rhetorische Frage hin, die nach (vielen) Antworten sucht und die Pluralität der Werte in und durch Architektur feiert.
Architektur als Antwort auf aktuellen Veränderungen
In seinem Statement zum Motto der Ausstellung schreibt der Kurator Hashim Sarkis: «Sie ist in der Tat ebenso eine soziale und politische Frage wie eine räumliche. In jüngster Zeit machen die sich schnell verändernden sozialen Normen, die politische Polarisierung zwischen links und rechts, der Klimawandel und die wachsende Kluft zwischen Arbeit und Kapital diese Frage dringender relevant und in anderen Massstäben als früher. Parallel dazu zwingt uns die Schwäche der politischen Modelle, die heute vorgeschlagen werden, den Raum in den Vordergrund zu stellen und, vielleicht wie Aristoteles, die Art und Weise zu betrachten, wie die Architektur das Wohnen gestaltet, um sich mögliche Modelle vorzustellen, wie wir zusammenleben könnten.»
In ihrem ausführlichen und reich bebilderten online-Beitrag von baunetz id schreiben der Autor Norman Kielmann zum Thema der Biennale unter dem Titel Mad Max trifft Dschungelbuch: «Fragen zu stellen ist plötzlich wichtiger als Antworten zu geben. Zur Analyse der Gegenwart wird in die Zukunft geschaut.«
«Und weiter: Vor allem im Arsenale wird der Schirm weit aufgespannt. Man sieht Roboter, die Gebäude und Landschaften bauen. Menschen haben sich in Cyborgs verwandelt. In wassergefüllten Glaszylindern werden alienartige Wesen gezüchtet. Die Welt befindet sich in einem postapokalyptischen Zustand. Und doch lassen sich die Menschen nicht unterkriegen. Sie veranstalten ausgelassene Dinner-Runden zusammen mit anderen Hybridwesen an großen Eichentischen, wie in der Arbeit Refuge for Resurgence von Anab Jain, Jon Ardern und Sebastian Tiew vom Londoner Designstudio Superflux. Die Teller und Bestecke sind aus Naturalien und Artefakten zusammengebaut. Mad Max trifft Dschungelbuch.»
Die Kooperation im Sinne von „Zusammen“ fasziniert.
Beeindruckend war sicher, wie die TeilnehmerInnen der Biennale Architettura 2021 mit anderen Berufen und Berufsgruppen zusammen zusammen gearbeitet haben – mit KünstlerInnen, Bauherren, IngenieurInnen und HandwerkerInnen, aber auch mit PolitikerInnen, JournalistInnen, SozialwissenschafterInnen und normalen BürgerInnen. Sie unterstreicht damit die wichtige Rolle der ArchitektIn als VermittlerIn und vertritt gleichzeitig die Ansicht, dass die Architektur in ihrer materiellen, räumlichen und kulturellen Besonderheit die Art und Weise unseres Zusammenlebens inspiriert.Die Biennale hinterlässt gemischte Gefühle
Wandert man durch die – ironischerweise militärisch geprägten – historischen Hallen des Arsenale (der Name steht für die ehemalige Schiffswerft, das Zeughaus und die Flottenbasis der ehemaligen Republik Italien), so fühlt man sich eher in einer Kunst- als in einer Architekturaustellung. Das ist nichts Negatives, denn was es hier zu sehen gibt, ist teils von hoher gestalterischer Qualität und regt durchaus zum Denken an.
Die Biennale ist in fünf Abschnitten organisiert, drei davon im Arsenale, zwei im Zentralspavillon der Giardini.
Die Projekte reichen vom Analytischen über das Konzeptuelle, das Experimentelle, das Erprobte und Bewährte bis hin zum weitherum Bekannten. Die fünf Themenbereiche sind
- Among Diverse Beings (Arsenale) – Dieser Bereich befasst sich mit Veränderungen in der Wahrnehmung und Konzeption des menschlichen Körpers, dem empathischen Verhalten und den Auseinandersetzung mit anderen Wesen.
- As New Households (Arsenale) – Hier geht es um Reaktionen auf die veränderte Zusammensetzung und Dichte von Haushalten; der Erforschung von Technologien, die innovativen Wohnungsbau ermöglichen; der Erweiterung der Möglichkeiten des Mehrfamilienhauses als kollektive Wohntypologie.
- As Emerging Communities (Arsenale) – Dieser Abschnitt sucht neuartige Wege für Gemeinschaften, sich räumlich zu organisieren, macht Vorschläge für neue Formen sozialer Einrichtungen (Parks, Schulen, Krankenhäuser usw.), entwickelt Vorstellungen über die Zukunft Venedigs angesichts der Herausforderungen des Meeresspiegelanstiegs, der Pandemie und der sich verändernden Demografie uns zeigt Formen des Zusammenlebens in Addis Abeba, im Azraq-Flüchtlingslager, in Beirut, Hongkong, in den indisch-pakistanischen Korridoren, in einer Hausbesetzersiedlung in Lagos im Vergleich zu einer in Kairo und einer anderen in Guadalajara, in New York, Pristina, Rio de Janeiro und in der Region Sao Paulo.
- Across Borders (Giardini, Central Pavilion) – Dieser Bereich befasst sich mit der Frage, wie die wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen globalen Städten und dem globalen Hinterland ausgeglichen werden können, macht Vorschläge für eine bessere Verteilung unserer gemeinsamen Ressourcen und berichtet über Versuche, Architektur mit dem Schutz von gefährdeten Schätzen in Einklang bringen.
- As One Planet (Giardini, Central Pavilion) versucht, die Zukunft unseres Planeten zu antizipieren und zu kalibrieren, macht einen Vorschlag einer spekulativen mehr-als-menschlichen Zukunft für die Vereinten Nationen, präsentiert Lösungen angesichts der globalen Umweltzerstörung und stellt eine Verbindung her zwischen Erde und Weltraum.
Beim Rundgang durch die grossen Hallen und die zahlreichen Ausstellungsobjekte haben sich uns diese Themen trotz oft faszinierender Umsetzung gedanklich nicht immer erschlossen. Für ein etwas leichteres Verständnis vom Bezug zum Thema hätten wir in manchen Fällen etwas ausführlichere Erläuterungen zu den Werken geschätzt, in anderen Fällen hätten diese vielleicht aber die eigene Phantasie eingeschränkt.
63 Nationen in ihren Länderpavillons
Wie immer präsentieren sich in den Giardini der Biennale eine Vielzahl von Nationen in ihren jeweiligen Länderpavillons oder mit eigenen Beiträgen. In diesem Jahr waren es insgesamt 63 Nationen.
Spanien-Pavillon
Hier haben uns die Spanier mit einer sehr sensiblen Installation von tausenden von Flugblättern mit jeweils einem Projekt eines spanischen Architekten sehr intuitiv angesprochen und aufgezeigt, wie vielfältig die Vorstellungen der Architektur über das künftige Zusammenleben sein können.
Schweizer Pavillon
Für die Schweiz versuchte die Pro Helvetia mit ihrem Projekt „Orae – Experiences on the Border“ das Leben nahe der Schweizer Grenze visuell und intellektuell erlebbar zu machen.
Chile-Pavillon
Inspiriert zum Nachdenken über das Zusammenleben und den Alltag hat uns auch die kleine, aber feine Ausstellung im Chile-Pavillon. Hier haben die chilenischen Kuratoren 500 Zeugnisse – kleine erzählte Geschichten aus dem Alltag der Menschen – in 500 Gemälde verwandelt. Basierend auf einer Reihe von formalen Regeln und kollektiver Arbeit, bei der die Urheberschaft in der Quartier-Gemeinschaft verwässert wird, haben Maler und Historiker die Geschichten der emblematischen José Maria Caro-Siedlung zusammengetragen und in Bilder verwandelt. Letztere gehen durch verschiedene Räume und erinnern an vergangenes und gegenwärtiges Leben innerhalb dieser Lebensgemeinschaft.