Haben Sie schon mal von Georgia O’Keeffe gehört? Wenn ja, dann wissen Sie, was Sie erwartet und Sie sollten die Gelegenheit nutzen, diese umfassende Werkschau in der Fondation Beyeler zu besuchen. Wenn nicht, dass haben Sie jetzt die Gelegenheit, eine der bedeutendsten Malerinnen und Ikone der modernen amerikanischen Kunst (1887–1986) kennenzulernen.
Mit 85 Werken aus öffentlichen und privaten Sammlungen, vornehmlich aus den USA, bietet die Ausstellung einen repräsentativen Einblick in das ebenso vielfältige wie überraschende Schaffen dieser aussergewöhnlichen Künstlerin. Die Retrospektive ist eine seltene Gelegenheit für das europäische Publikum, das Werk Georgia O’Keeffes, welches in Sammlungen ausserhalb der USA kaum vertreten ist, in dieser Tiefe zu entdecken.
Die Ausstellung ist noch bis am 22. Mai 2022 geöffnet, jeweils von 10 – 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Tickets können Sie hier online bestellen.
O’Keeffe setzt das Wahrgenommene in neue Bilder der Realität um
Die Ausstellung in der Fondation Beyeler richtet ihr Augenmerk auf die besondere Art, wie O’Keeffe auf ihre Umgebung blickte und wie sie das Wahrgenommene in gänzlich neuartige Bilder der Realität – mal nahezu abstrakt, mal naturnah – umsetzte. «Man nimmt sich selten die Zeit, eine Blume wirklich zu sehen. Ich habe sie gross genug gemalt, damit andere sehen, was ich sehe.» Dieses Zitat aus dem Jahr 1926 kann als Leitfaden für die Betrachtung von O’Keeffes Kunst und Leben herangezogen werden. O’Keeffe entwickelte eine individuelle, zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit changierende Bildsprache, welche sich bis heute durch eine ausserordentliche Aktualität auszeichnet. Der ganz eigene Blick der Künstlerin in Verbindung mit ihrer behutsamen und respektvollen Annäherung an die Natur machen Georgia O’Keeffe zur wichtigsten und interessantesten Malerin von Landschaft und Natur im 20. Jahrhundert.
Georgia O’Keeffe verbrachte ab 1918 entscheidende Jahre ihrer künstlerischen Entwicklung in der Metropole New York, im Zentrum des damals angesagten und höchst einflussreichen kleinen Kreises um Alfred Stieglitz, dem Fotografen, Galeristen und Vermittler, in dessen Galerie nicht nur sehr früh die Avantgarde Europas gezeigt und diskutiert wurde, sondern wo in Reaktion darauf eine neue junge amerikanische Kunst und Fotografie propagiert und gefördert wurde. Ihre frühe Anerkennung und darauffolgende Karriere hatte O’Keeffe der Unterstützung durch Stieglitz, ihren späteren Ehemann, und der jahrzehntelangen Verbindung zur New Yorker Kunstszene zu verdanken. Doch in Bezug auf ihre Kunst hinterliess das urbane Leben der Grossstadt nur wenige erkennbare Spuren.
Von Frühwerken aus ihrer Heimat über New York bis in die letzten Jahre in New Mexico
Die Ausstellung beginnt mit einem Blick auf O’Keeffes frühe Arbeiten, welche während ihrer Tätigkeit als Lehrerin in Virginia und Texas entstanden. Kohlezeichnungen werden neben einer Auswahl kleinformatiger Aquarelle gezeigt, die eine intensive Farbigkeit und Leuchtkraft ausstrahlen. Red Landscape ist eines der wenigen Ölgemälde aus dieser Zeit.
Darauffolgende Arbeiten offenbaren die Auseinandersetzung der Künstlerin mit der Abstraktion. Grundsätzlich bestimmte jedoch das Nebeneinander von gegenständlicher und abstrakter Malerei das Schaffen O’Keeffes ganz wesentlich.
Die Pflanzenwelt, insbesondere Blumen, dienten als zentrale Motive im Werk von O’Keeffe. In ihren grossformatigen Blumenbildern lässt sich die Beschäftigung O’Keeffes mit der damals aktuellen Strömung der «Straight Photography» erkennen.
O’Keeffes wichtigste Inspirationsquellen waren die Natur und die Landschaft; sie malte sowohl figurative Werke als auch Abstraktionen, die auf Landschaftsmotiven basieren, zuerst am Lake George und später in New Mexico. Die Werke aus der Zeit des ersten Aufenthalts in New Mexico bezogen ihre Anregungen von den für die Region typischen Erscheinungsformen wie der Adobe-Architektur oder den mitten in der Landschaft aufgestellten Büsserkreuzen einer religiösen Laienbruderschaft. In dieser Zeit entstand auch Mule’s Skull with Pink Poinsettias, 1936, eines von O’Keeffes berühmten Gemälden jener Tierschädel, die sie in der Wüste fand.
Während der Kriegsjahre, als O’Keeffe permanent in New Mexiko lebte, wandelte sich ihr Blick auf diese Landschaft. In ihren beiden Werkserien Black Place I–IV, 1944, und Black Place I–III, 1945, gab sie die grauschwarze Hügellandschaft in einer ungewohnt dunklen Palette wieder und malte sie zunehmend abstrakt und aus der Vogelperspektive gesehen. Auch das Stillleben It Was a Man and a Pot von 1942 legt nahe, dass sich O’Keeffes Wahrnehmung der Umgebung in den 1940er-Jahren unter dem Eindruck des Kriegsgeschehens veränderte.
Im letzten Saal der Ausstellung zeigt die Fondation Beyeler O’Keeffes Spätwerk.
Mehr über die Künstlerin Georgia O’Keeffe
O’Keeffe wuchs auf der elterlichen Milchfarm in Wisconsin, im Mittleren Westen der USA, auf. Ihre entscheidenden künstlerischen Schritte tat sie in der Zeit, als sie zuerst in Charlottesville, Virginia, und danach in Canyon, Texas, lebte, wo sie von 1916 bis 1918 eine Stelle als Kunstlehrerin bekleidete. Auch nach der Übersiedlung nach New York bestimmte der Wechsel an oft wiederkehrende Orte den Rhythmus ihres Lebens als Künstlerin. Während vieler Jahre waren es Sommeraufenthalte auf dem Ferienwohnsitz der Familie Stieglitz am Lake George im Bundesstaat New York, wo ein grosser Teil ihres damaligen Schaffens seinen Anfang nahm. 1929 reiste O’Keeffe das erste Mal für mehrere Wochen nach New Mexico im Südwesten der USA, wohin sie alljährlich zurückkehrte, immer allein, und wo sie sich nach dem Tod von Stieglitz endgültig niederliess.
Georgia O’Keeffe galt in den USA bereits zu Lebzeiten als bedeutende Vertreterin und Mitbegründerin der neuen amerikanischen Kunst, wie sie seit den späten 1910er-Jahren neben und in Absetzung von der europäischen Avantgarde propagiert wurde. 1943 fand im Art Institute of Chicago ihre erste Retrospektive in einem Museum statt, 1946 organisierte das Museum of Modern Art, New York, eine grosse Ausstellung, die erste Werkschau einer Künstlerin in dieser Institution.
Die erste grosse Ausstellung in Europa wurde ihr 1993 in der Hayward Gallery in London ausgerichtet. Eine der wenigen Ausstellungen in den Jahren danach und die erste in der Schweiz war die 2003 von Bice Curiger kuratierte Retrospektive im Kunsthaus Zürich. Georgia O’Keeffe gehört heute auch in Europa zu den berühmten Künstlerinnen und Künstlern, obwohl ihre Werke nur selten im Original zu sehen sind.